Lebensgeschichten

Zu den derzeitigen Forschungsarbeiten gehört die Ermittlung der jüdischen Kriegsgefangenen und deren Biografien. Einige Lebensläufe wurden bereits von unseren gedenkstättenpädagogischen Mitarbeiterinnen A. Berking und M. Degener erforscht, indem sie verschiedene Quellen auswerteten und Kontakt zu den Kindern und Enkelkindern der ehemaligen Gefangenen aufnahmen.

HENRI GOLDSTEIN
Der Chronist

   

Henri Goldstein wird am 16. Mai 1920 als Sohn einer liberal-jüdischen Familie in Brüssel geboren. Das neutrale Belgien wird am 10. Mai 1940 von Deutschland angegriffen. Schon gut zwei Wochen später muss das Königreich kapitulieren. Am 26. Mai 1940 ist Goldstein in der Nähe von Brügge in deutsche Kriegsgefangenschaft geraten. Bald darauf wird er nach Deutschland überstellt. 


Die Kriegsgefangenschaft

Henri Goldstein wird bis Kriegsende in insgesamt sieben verschiedenen Kriegsgefangenenlagern inhaftiert sein. Eine der Stationen seiner Kriegsgefangenschaft ist ab Ende August 1942 das Arbeitskommando 7000 im Hamburg Freihafen, wo er bis Ende 1944 bleiben wird und zum Einlagern von Kartoffeln in einem Hafenschuppen eingesetzt wird.


Kriegsgefangenen-Arbeitskommando 1416

Im November 1944 wird Goldstein zu seiner letzten Station, dem Kriegsgefangenen-Arbeitskommando 1416 im Quickborner Himmelmoor, gebracht. Die Zustände in der Gefangenenunterkunft, in der er zusammen mit insgesamt 53 jüdischen Kriegsgefangenen, vor allem aus Frankreich, untergebracht ist, werden von ihm in seinen Erinnerungen als sehr bedrückend geschildert. Vor allem die Enge in der Unterkunft macht ihm zu schaffen.

„Jede dieser Fallen [gemeint sind die Betten] hatte drei Etagen, und der Raum zwischen ihnen kann nicht mehr als vierzig Zentimeter betragen haben. Zwei Menschen konnten sich da kaum bewegen. An einer Wand waren kleine Schränke aufgehängt. In der Mitte des Zimmers stand der Torfofen und im restlichen Raum waren, mehr schlecht als recht, noch drei Tische, umgeben von Bänken und Hockern, aufgestellt. Mit anderen Worten, wenn sich dreiundfünfzig Gefangene da bewegen wollten, musste jemand den Verkehr regeln. Hier gab es nicht den kleinsten Lebensraum.“

Zusammen mit den anderen Gefangenen musste Goldstein jeden Tag ins Moor ziehen und Torf stechen. Goldstein wird laut eigener Aussage häufig Opfer von Gewalt.


Leben nach dem Krieg

Mit der Ankunft britischer Truppen in Quickborn am 4.Mai 1945 endet Henri Goldsteins Kriegsgefangenschaft. Im Mai 1947 nimmt Goldstein erneut seine Arbeit als Fotograf und Filmemacher im ehemaligen Belgisch-Kongo auf. 1962 kehrt er nach Belgien zurück, wo er bis zu seiner Pensionierung 1982 die fotografische Abteilung des belgischen Instituts für Information und Dokumentation leitet.

1992 erscheinen in zwei Bänden seine Erinnerungen an die Zeit als Kriegsgefangener. Darin beschreibt er auch den Lageralltag im Kriegsgefangenen-Arbeitskommando 1416 im Himmelmoor.

In den folgenden Jahren wendet Goldstein sich zweimal an die Stadt Quickborn, um sich seine Zwangsarbeit im Himmelmoor bestätigen zu lassen.Die Stadt stellt ihm trotz fehlender Unterlagen die gewünschte Bescheinigung aus. Das Kriegsgefangenenlager im Himmelmoor rückt zum ersten Mal in den Blickpunkt des öffentlichen Interesses. Am Ende steht die Gründung der Gedenkstätte „Henri-Goldstein-Haus“ am historischen Ort des ehemaligen Kriegsgefangenen-Arbeitskommandos 1416.

Aufgrund seines schlechten Gesundheitszustands ist es Henri Goldstein nicht mehr möglich, den Ort seiner Gefangenschaft noch einmal aufzusuchen. Er stirbt am 13. April 2014 in seiner Brüsseler Wohnung.


LÉON DREYFUSS

Stationen einer Kriegsgefangenschaft


Léon Dreyfuss wird am 3. Februar 1911 in Straßburg geboren. Seine Familie ist jüdisch und seit Generationen im Elsass ansässig. Er verbringt seine Kindheit und Jugend im nunmehr französischen Strasbourg. Er macht eine Ausbildung zum Buchhalter und heiratet im September 1933. Ein Jahr später kommt das erste Kind zur Welt. Léon absolviert seinen Militärdienst in Strasbourg und zieht 1934 gemeinsam mit seiner kleinen Familie nach Paris. 

 

Im Sommer 1939 wird Léon Dreyfuss als einfacher Soldat eingezogen. Am 10. Mai 1940 überrascht das Deutsche Reich Frankreich mit einem militärischen Angriff und zwingt die französischen Truppen schnell zum Rückzug. Nachdem am 23. Juni 1940 der Waffenstillstand verkündet wird, müssen die Soldaten der französischen Armee schließlich ihre Waffen niederlegen. Rund 1,9 Millionen Menschen geraten in deutsche Kriegsgefangenschaft.


Léon ist zu diesem Zeitpunkt 29 Jahre alt. Als Elsässer Jude bleibt Léon in Kriegsgefangenschaft. Von September 1939 bis Januar 1945 unterhält die deutsche Wehrmacht in der Nähe des ostpreußischen Hohenstein (heute Olsztynek, Polen) das Kriegsgefangenlager Stalag I B. Schätzungen zufolge passieren in dieser Zeit rund 650.000 Soldaten verschiedener Nationalitäten das Lager. Die meisten von ihnen kommen aus Polen, Frankreich und der Sowjetunion, aber auch aus Italien, Belgien und Serbien. 50–55.000 von ihnen sterben an den Folgen der schlechten hygienischen Verhältnisse, Typhus-Epidemien, Unterernährung, schwerer körperlicher Arbeit und Folter. Besonders hart sind die Lebens- und Arbeitsbedingungen für die sowjetischen Kriegsgefangenen.


Bei ihrer Ankunft im Lager werden Léon und die anderen französisch-jüdischen Soldaten von ihren nichtjüdischen Kameraden getrennt. Die Kriegsgefangenen leiden „unter Hunger und Ungeziefer“. Anfang 1941 wird Léon gemeinsam mit einer großen Gruppe französischer Kriegsgefangener mit dem Zug nach Hamburg gebracht. Etwa zwei Jahre lang arbeitet er dort in unterschiedlichen Arbeitskommandos.


Arbeitskommando 1416, Quickborn-Himmelmoor

Am 9. Dezember 1942 werden Léon und seine Kameraden nach Quickborn verlegt. Dort bilden die französisch-jüdischen Kriegsgefangenen das Arbeitskommando Nr. 1416. Sie werden im Himmelmoor zum Torfabbau eingesetzt – gemeinsam mit Gefangenen der Strafvollzugsanstalt Rendsburg und sowjetischen Kriegsgefangenen, die ebenfalls in Quickborn interniert sind. Die verschiedenen Gruppen werden im Alltag jedoch strikt voneinander getrennt.


Befreiung

Am 8. Mai, dem Tag der bedingungslosen Kapitulation der deutschen Wehrmacht, verlässt Léon das Arbeitskommando im Himmelmoor. Gemeinsam mit französischen, belgischen und niederländischen ehemaligen Kriegsgefangenen und Zwangsarbeitern kommt er für einige Tage in verschiedenen Displaced Persons-Lagern in Hamburg unter. Am 21. Mai 1945 beginnt die lang ersehnte Rückführung nach Frankreich. Léon wird Ende Juni 1945 offiziell aus dem Militärdienst entlassen. Er ist mittlerweile 34 Jahre alt. Léon findet in seinen zivilen Beruf als Buchhalter zurück.


In den 1970er Jahren zieht er in die Schweiz. Dort stirbt Léon Dreyfuss im Januar 2008 im hohen Alter von 97 Jahren. Er hinterlässt vier Kinder und 13 Enkelkinder, die sein Andenken aufrechterhalten.


ERNEST GUGENHEIM

Ein Rabbiner in Gefangenschaft


Ernest Gugenheim wird am 22. Januar 1916 in Westhofen im Elsass geboren. Er entstammt einer elsässisch-jüdischen Familie, die viele Rabbiner und Gelehrte hervorgebracht hat. 1933 tritt er in die Rabbinerschule SIF „Israelitisches Seminar Frankreich“ in Paris ein. Im Juni 1940 gerät Ernest Gugenheim in deutsche Kriegsgefangenschaft. Auf einem Zettel notiert er die Namen seiner jüdischen Kameraden, von denen viele wie er aus dem Elsass stammen. Schnell übernimmt er inoffiziell die Rolle eines geistlichen Leiters.

 

Er schreibt, seine kleine „Gemeinde“ habe für ihn „ein bemerkenswertes, wenn nicht gar ideales Erfahrungsfeld“ dargestellt: „Nirgendwo sonst nahm der Rabbiner so sehr am Leben seiner Gläubigen teil wie hier. Er war genau einer von ihnen, ein Gefangener wie sie, wie sie eine Nummer. Er teilte das Leben seiner Kameraden in ständiger Enge; er teilte ihre Arbeit, ihre Spiele, ihre Bestrafungen, ihre Leiden“.


Im Februar 1941 wird die Gruppe nach Hamburg gebracht, wo die Kriegsgefangenen auf verschiedene Arbeitskommandos aufgeteilt werden. Nach verschiedenen Stationen kommt Ernest im Januar 1943 in das Arbeitskommando 1416 nach Quickborn. Hier trifft er einige seiner Kameraden wieder. Als informeller Rabbiner und geistlicher Leiter spricht er seinen Mitgefangenen Mut zu und bestärkt sie, an eine bessere Zukunft zu glauben, ohne die Augen vor der Realität zu verschließen. Besonders wichtig ist ihm, seine Mitgefangenen in ihrer jüdischen Identität zu bestärken und ihnen auf diese Weise zu helfen, ein starkes Selbstbewusstsein aufzubauen.


Fast fünf Jahre verbringt Ernest Gugenheim in Gefangenschaft. Nach seiner Befreiung durch die britische Armee im Mai 1945 kehrt er erschöpft und gezeichnet nach Frankreich zurück. In Paris lehrt er als Professor für Talmud und rabbinisches Recht an seiner ehemaligen Rabbinerschule.


Wie vielen Kriegsgefangenen fällt es Ernest schwer, von der Zeit seiner Gefangenschaft zu berichten:


„Ein ehemaliger Gefangener, der in der Öffentlichkeit über Erinnerungen an seine Gefangenschaft sprechen soll, wird zunächst auf eine doppelte Unannehmlichkeit stoßen.  [...]. Einerseits ahnt er, dass seine Zuhörer von ihm die Erzählung besonders mutiger, wenn nicht gar heldenhafter Züge erwarten, und er befürchtet sehr, sie zu enttäuschen. Andererseits bewahrt er seit seiner Befreiung eine Art Scham gegenüber allem, was er gesehen und erlitten hat, und hält Worte auf seinen Lippen zurück, die zweifellos diese Eindrücke und Erinnerungen verzerren würden [...].“

 

Im Dezember 1976 zwingt ihn eine Krebserkrankung, von seinen beruflichen Aufgaben zurückzutreten. Ernest Gugenheim stirbt im Jahr darauf im Alter von 61 Jahren.

 

HENRI SAMUEL

Berufsverbot und Zeuge


Henri Samuel wird am 7. April 1912 in Quatzenhein im Elsass geboren. Nach der deutschen Niederlage im Ersten Weltkrieg wird der Elsass 1919 erneut dem französischen Staat zugesprochen. Henri wächst heran und wird, wie schon sein Vater, Handelsvertreter. Im Alter von 19 Jahren wird er zum Militärdienst in die französische Armee einberufen und zum Sanitäter ausgebildet. 1935 heiratet Henri und zieht nach Strasbourg. 

 

Die Kriegsgefangenschaft

Als die deutsche Wehrmacht im Mai 1940 Frankreich überfällt, gehört Henri Samuel vermutlich mit zu den ersten französischen Kriegsgefangenen. Er ist zu diesem Zeitpunkt 28 Jahre alt. Henri wird zunächst in das Kriegsgefangenenlager Stalag XI B Fallingbostel nördlich von Hannover gebracht. Die weiteren Stationen seiner Kriegsgefangenschaft sind nicht genau bekannt. Sicher ist lediglich, dass er aufgrund seiner jüdischen Herkunft im Winter 1942/43 in das Arbeitskommando 1416 für französisch-jüdische Kriegsgefangene in Quickborn-Himmelmoor verlegt wird.


Berufsverbot

Aufgrund seiner Ausbildung als Sanitäter bittet Henri Samuel am 19. April 1943 um Bestätigung und Eintragung als ausgebildeter Sanitäter. Dies wird ihm vermutlich verwehrt, denn im Umgang mit jüdischen Ärzten und Sanitätern verstößt die Wehrmacht immer wieder eindeutig gegen die Genfer Konventionen. Das Verwundeten- und Krankenabkommen sieht vor, dass Sanitätspersonal so bald wie möglich repartriiert (also nach Hause entlassen) werden muss.


Die Wehrmacht weigert sich jedoch, jüdische Ärzte und Sanitäter zu entlassen und belegt sie zudem mit einem Berufsverbot. Im Unterschied zu nichtjüdischen Kollegen dürfen sie keine Kranken versorgen. Diesen rassistisch motivierten Verstoß gegen die Genfer Konventionen bekommt auch Henri Samuel zu spüren.


Der Zeuge

Die Zeit seiner Kriegsgefangenschaft in Quickborn und seine Arbeit im Himmelmoor beschreibt er kurz nach dem Krieg als Zeuge im Gerichtsprozess gegen den ehemaligen Lagerleiter „als „besonders hart [...]. Wir standen dabei sommers wie winters ständig im Schlamm und die Menge an Torf, die wir jeden Tag stechen mussten, überstieg unsere Kräfte bei weitem“.

 

Nach der Befreiung durch die Alliierten im Mai 1945 kehrt Henri Samuel nach Frankreich zurück. Gemeinsam mit seiner Frau zieht er aus Paris zurück nach Strasbourg. Er kehrt in seinen erlernten Beruf zurück und arbeitet als Außenhandelsvertreter in der Bekleidungsbranche.


Henri Samuel stirbt 2001 im Alter von 89 Jahren. Das Paar hat keine Kinder.


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